Eine Badewanne in Schöneberg

Für ein gewisses Chamäleon aus Harlem

 

Eine meiner schönsten Berliner Erinnerungen habe ich aus
den sonst unschönsten Monaten, die ich dort verbrachte. An den genauen Ort kann
ich mich nicht erinnern, und ein Datum will mir selbst beim besten Willen nicht
einfallen. Abgesehen von solchen Einzelheiten, die im Endeffekt keine Rolle
spielen, erinnere ich mich jedoch an alles.

 

Es ist
wahrhaft erstaunlich, wie schnell sich die eigenen Maßstäbe komplett verändern
können. An dem Tag, um den es hier geht, hatte ich schon seit geraumer Zeit
neue Maßstäbe. Zu Pessach 2000 war ich nämlich obdachlos geworden. Als ich nach
Hause kam, begrüßten mich ein neues Schloß und die Drohung, mich zu
denunzieren, falls ich „Schwierigkeiten“ machen sollte.

So mußte
ich mich mit nichts als ein paar Büchern, einem leeren Portemonnaie und den
Sachen, die ich gerade anhatte, erneut auf die Straße begeben.

 

Ein mir
bekannter Musiker vermittelte mir eine Art Notunterkunft. Eigentlich handelte
es sich dabei um kaum mehr als ein Dach. Meine Notunterkunft war eine
Vorkriegs-Parterrewohnung in der Erich-Weinert-Straße, die weder über Strom
noch Heizung, noch über ein nennenswertes Klo verfügte. Als Ein- und Ausgang
fungierte in Ermangelung eines Hausschlüssels das Küchenfenster. Ich glaube,
daß die Wohnung außerdem über Bombenschäden verfügte, obwohl es beim fahlen
Kerzenlicht schwer zu beurteilen war.

 

Auf dem
stark in Mitleidenschaft gezogenen Sofa schlief ich schlecht und wenig. Wenn
ich schon durchs Fenster rein kann, kanns jeder.

 

Nach guter
alter Tradition hieß meine Devise: Könnte schlimmer sein.

 

Tagsüber
widmete ich mich dem Schnorren. Da ich mir selbst in normalen Zeiten mit dem
Erbitten von Gefallen schwertue, beschränkte ich mich größtenteils auf das
Passivschnorren. Das lief ungefähr so:

 

Meist
setzte ich mich vor den Brunnen am Alex hin. Unweigerlich erschien nach einiger
Zeit irgendein Mann, der sich von meinem sichtbaren Elend angezogen fühlte.

 

 

„Mädel,
warum sitz du so traurig da?“

 

 

„Ich hab
kein Geld, nichts zu essen und nichts anderes zu tun.“

 

 

„Mädel, du
muß nit so leben. Komm, ich kauf dich schöne Wohnung mit hübsch Teppichen und
neue Kleider. Komm, Mädel!“

 

So
quatschte mich jeder an, der sich eine schnelle Nummer zu Dumpingpreisen
versprach.

 

„Wirklich?“

 

„Klar,
Mädel. Ich mach alles für dich, wenn du kommst mit mir nach Hause.“

 

„Das ist
wirklich sehr nett. Im Moment denk ich aber vor allem ans Essen. In den letzten
Tagen hab ich kaum was zu mir genommen.“

 

 

„Sicher!
Was du willst!“

 

„Es gibt
da im Bahnhof ne kleine Pizzabude. Kostet nur zirka 5 Mark.“

 

„Zu teuer“
erwiderte der Mann, der mir soeben eine Luxuswohnung schenken wollte. Meist
bekam ich von diesen Männern höchstens Pommes oder einen Eisbecher. Kaum war
das Essen da, machte ich mich aus dem Staub. Auf gar keinen Fall gedachte ich,
zu irgendeiner dieser Gestalten nach Hause, geschweige denn mit einer von ihnen
ins Bett zu gehen. Selbst in solchen Zeiten waren mir sowohl durch meine Würde
als auch durch meine Leidensfähigkeit Grenzen gesetzt. Außerdem graute es mir vor
dem Gedanken daran, mich mit einem dieser Männer an einen Ort zu begeben, wo es
keine Zeugen gab: Lieber mit Hunger ins Bett als mit 20 ins Grab. Nein,
die Nummer müßten sie sich schon woanders besorgen. Meinetwegen durften sie
sich aber alles von mir versprechen. Ich erweckte aktiv keine Erwartungen,
widersprach jedoch auch keinen. Sollen die Penner doch denken, was sie
wollen. Hauptsache, ich krieg was zu essen.

 

So war
also mein damaliger Alltag. Bestimmt wurde mein Leben durch den Hunger. Diesen
konnte ich zuweilen mit erschlauchten Zigaretten stillen, aber er kam jedesmal
wieder. Ich weiß nicht mehr, wie ich roch, aber es kann wohl kaum schön gewesen
sein. Eine Dusche gabs in meiner Bombenbude nicht, also hatte ich höchstens
alle paar Wochen Gelegenheit, mich wirklich zu waschen. Ich war dreckig,
hungrig, verzweifelt und verängstigt. Hatte Angst vor Vergewaltigern,
Kontrolleuren, Bullen, Einbrechern und zu allem Überfluß auch noch vor dem
Verhungern.

 

Manchmal
jedoch mußte ich leise lachen. Ich war ja schließlich nicht die allererste
Jüdin, die sich in Berlin mangels brauchbarer Papiere hungrig und verzweifelt
durchschnorren hatte müssen. Mehr als einmal kam der Gedanke: Mein Elend hat
Tradition!

 

Auf diesem Hintergrund saß ich eines Abends in einem Bluesclub
in der Potsdamer Straße, der einem Bekannten gehörte. Da bekam ich so ziemlich
jedesmal irgendetwas spendiert von den Westafrikanern, die zur Stammkundschaft
des Lokals gehörten. Der Eindruck, den meine paar Bröckchen Wolof und meine
Französischkenntnisse auf die meisten machten, war allem Anschein nach ein paar
Flaschen Becks bzw. eine Tüte wert. Es war dort auch so dunkel, daß keiner
merkte, wie verkommen ich aussah. So konnte ich ein paar Stunden lang
vergessen, in welche Sauerei ich geraten war.

 

Das muß
wohl im Juni 2000 gewesen sein. Zu mir setzte sich ein Mann, von dem ich
alsbald erfuhr, daß er von Beruf Maler sei und ursprünglich aus Harlem komme.
Nachdem diese Feststellungen erfolgt waren, kamen wir sehr schnell ins
Gespräch. Mit einer derartigen Begegnung hatte ich keineswegs gerechnet. Er war
um die 40, und hatte eine sanfte, humorvolle Stimme. Mit seinem dünnen Hauch
von Schnurrbart erinnerte er mich an Gregory Hines. Da fing ich an – wie üblich
– meine Leidensgeschichte zu erzählen.

 

Irgendwie
hatte ich nicht das Gefühl, einen Mann vor Augen zu haben, der meine Notlage
ausnutzen wolle. Inzwischen hatte ich ein sehr gutes Gespür für solche
Ausbeuter entwickelt. Einmal war ich beinahe vergewaltigt worden. Mehrmals war
ich mit knapper Not davongerannt. Im Rennen war ich inzwischen ziemlich geübt.
Aber dieser Herr aus Harlem war anders. Ich wußte instinktiv, daß er nichts von
mir wollte, keine Hintergedanken hatte. Er gehörte dieser selten
anzutreffenden, aber doch vorhandenen Gattung der anständigen Menschen an.
Seine Anteilnahme war echt.

 

So kam es,
daß ich keine Ausreden erfand, als er mich zu sich einlud. Es war bestimmt auch
Verzweiflung dabei, aber vor allem erinnere ich mich an das sichere Gefühl, daß
mir bei ihm nichts passieren würde, daß ich irgendwie in Sicherheit sein
würde. Nach diesem Gefühl der Sicherheit hungerte ich sogar mehr als nach einem
Essen, das tatsächlich sattmachte.

 

Als wir
bei ihm ankamen, traute ich meinen Augen kaum noch. Wo bin ich denn hier
angekommen?
Von dem, was ich sah, hatte ich nicht einmal zu träumen gewagt.
Bei diesem anständigen Menschen handelte es sich offenbar um einen Angehörigen
einer noch seltenen Gattung: Berliner Künstler, die auch noch Geld haben.

 
 
Er schlug
mir vor, ich möge mich vielleicht mal frischmachen und zeigte mir das
Badezimmer. Was ich da sah, war ein Bild aus dem Paradies. Anders läßt es sich
nicht beschreiben. Ich stand fixiert vor dem Anblick einer altmodischen,
elfenbeinweißen, fast ein Meter tiefen, glänzenden Badewanne. Ich lag eine
gefühlte Ewigkeit lang im heißen Wasser, wusch mir nicht nur den Dreck vom
Leibe, sondern auch noch die vielen seelischen Verunreinigungen, die sich im
Laufe der Zeit angesammelt hatten. Die Möchtegern-Vergewaltiger, der dauerhafte
Hunger, die täglichen Demütigungen des Schnorrerdaseins, die Angst,
kontrolliert, zusammengeschlagen, vergewaltigt, verhöhnt, verhaftet, ermordet
zu werden, die Angst davor, keinen Ausweg aus diesem Zustand zu finden. Dieses
Bad ließ das alles verschwinden.
 


 

 
Während ich mich
entdreckte, geschah auch etwas anderes: Ich entdeckte mich wieder als
Menschen
.


 

 

Als ich verwandelt aus dem
Badezimmer herauskam, zeigte er mir, wo ich schlafen durfte. Keine
Anspielungen, keine Hände an Brust und Beinen, kein Versuch, meine Hand in seine
Hose zu lotsen, nicht mal der Vorschlag, ich dürfe ihn natürlich auch in sein
Bett begleiten, nur ein Sofa in seinem wunderschönen Wohnzimmer mit weichen
Kissen und warmen Decken. Ruhig und bequem zu schlafen – ich wußte nicht einmal
mehr, was das heißt. Aber in dieser Nacht durfte ich mich wieder mit dem Gefühl
vertraut machen. Ich schlief wohl ziemlich schnell ein, denn ich kann mich
nicht mehr erinnern, wie lange es gedauert hat. Das lag jedoch nicht nur – und
auch nicht in erster Linie – an der Erschöpfung; ich war damals immer erschöpft,
und doch schlief ich nie sofort ein.
 


 

(Warum ist dieser Abend
anders als andere Abende?)
 


 

Es lag wohl eher daran,
daß ich mir überhaupt keine Gedanken zu machen brauchte. Die Fragen, die mich
jede Nacht quälten – Was ist, wenn einer durchs Fenster kommt, während ich
schlafe? Was ist, wenn jemand meine Anwesenheit bemerkt und der zuständigen
Stelle meldet? Was ist, wenn ich morgen raus muß?
– stellten sich in dieser
Nacht nicht. Soweit ich mich erinnern kann, dachte ich überhaupt nicht. Ich
genoß nur die Wärme, den Komfort, die Sicherheit, die Geborgenheit. In dem
Moment gab es alles andere nicht mehr.
 


 

Als ich ungezwungen,
ausgeruht, menschlich aufwachte, war er schon längst wach. Er hatte sogar etwas
zum Frühstück zubereitet. Frühstück. Sowas gab es nicht bei mir. Überhaupt
hatte ich vergessen, daß Menschen morgens in aller Ruhe etwas essen, ohne
vorher Beschaffungsmaßnahmen ergreifen zu müssen. Und das, was er mir da
auftischte – dafür gibt es keine Worte. Kein Snickers aus dem Automaten,
sondern Kaffee, Obst, Brot, und und und. Wir frühstückten auf seinem Balkon. Da
schien die Sonne, was sie in Berlin selten einmal tut, und wir aßen ohne Eile,
unterhielten uns über dies und jenes. Er interessierte sich tatsächlich für das,
was ich erzählte. Wieviel Mal hatte ich in jener Zeit „Gespräche“ erlebt, bei
denen mein Gegenüber gar nicht zuhörte, nur auf den günstigen Moment wartete,
in dem er das ergreifen konnte, um das es ihm wirklich ging? Wieviel Mal hatte
ich nicht mal mir selbst zugehört, weil mein Magen meine volle Aufmerksamkeit
beanspruchte?


 

 

Selbst heute, wo ich
längst in viel besseren Verhältnissen lebe (ich kann z.B. täglich baden), zähle
ich die Zeit bei diesem Maler in Schöneberg zu den schönsten Tagen meines Lebens.
Ein heißes Bad, ein warmes Bett, Frühstück auf dem Balkon, die eigene
Menschlichkeit wiederfinden – was braucht man denn sonst noch im Leben?


 

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